Ständige Gedanken ums Essen: Ernährung in der Recovery
Zugegeben: Als ich meine Instagram-Community gefragt habe, welchen Blogartikel sie als nächstes gerne lesen würde und die Antwort war: „ständige Gedanken ums Essen“, habe ich ganz schön lange gebraucht, um mich hier ranzusetzen. Denn darüber zu schreiben, was man tun kann, wenn sich die eigenen Gedanken nur ums Essen drehen, wie man am besten isst, um ein gestörtes Essverhalten zu heilen und welche Ernährung überhaupt die richtige ist, das kann ich nicht – zumindest nicht allgemein gültig. Denn jede Frau, die unter ihrem Essverhalten leidet oder gar eine Essstörung hat, hat ihre eigene Geschichte und muss letztlich ihren eigenen Weg finden.
Was ich aber kann: dir von meinen Erfahrungen berichten und dir Einblicke in den Austausch mit meinen Klientinnen geben.
Beachte bitte, dass ich hier aus meinen eigenen Erfahrungen spreche und als ausgebildete Systemische Beraterin. Ich bin KEINE Ärztin oder Psychotherapeutin. Scheue dich nicht, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Hilfe musst du dir nicht verdienen.
Das Wichtigste vorne weg: Es ist hilfreich und ratsam und wichtig sich in der Genesung von einer Essstörung mit anderen (ehemaligen) Betroffenen auszutauschen, sich beraterische Unterstützung zu suchen, sich ärztlich begleiten zu lassen. Dennoch: Niemand kann es dir abnehmen, die Nahrungsmittel zu essen, nach denen du dich sehnst oder die du dir verbietest. Es liegt in deiner Hand, die Gabel zum Mund zu führen.
Die Gedanken kreisen um verbotene Lebensmittel
Wenn deine Gedanken andauernd ums Essen kreisen, wirst du mit Sicherheit auch eine (imaginäre) Liste mit Lebensmitteln oder ganzen Lebensmittelgruppen haben, die du nicht essen darfst. Nahrungsmittel, die du dir selbst komplett verbietest oder nur in sehr geringen Mengen zu dir nehmen darfst. Je länger oder restriktiver du an den Verboten festgehalten hast, desto größer ist jetzt wahrscheinlich auch die Angst davor, genau diese Lebensmittel zu essen und die Menge an Nahrung zu erhöhen. Das ist völlig normal. Und das ist jetzt einfach so. Sich daran aufzuhalten, bringt dich nicht weiter.
Der Mechanismus von Restriktion und Belohnung
Wichtig für mich zu verstehen war in dieser Phase, dass ICH, solange ich mir irgendetwas verbiete zu essen oder Regeln aufrechterhalte, die besagen, dass ich nach beispielsweise Pizza, besonders viel Sport machen muss, ICH nicht genesen werde. Denn ich würde mich, bei dieser Art von Essverhalten immer dann dieses schädlichen Mechanismus von Belohnung und Bestrafung bedienen, wenn ich das Gefühl hätte, in irgendeiner Form mein Leben regulieren zu müssen.
Mir ist in meiner eigenen Genesungsphase aufgefallen, dass dieser Mechanismus von Restriktion, Sport, Belohnung, Bestrafung immer dann besonders aktiv wurde, wenn ich Schwierigkeiten hatte – z.B. bei der Arbeit, in sozialen Beziehungen, wenn ich gestresst war, übermüdet, depressiv.
Und wenn ich dem Essen dadurch so viel Macht über mein Befinden überlasse, dann würde es immer ein angespanntes Verhältnis bleiben. Normalität oder gar Freiheit ausgeschlossen.
Einen Test um eine erste Einschätzung zu bekommen, ob dein Essverhalten auf eine Essstörung hinweist, findest du bei ANAD: Teste dein Essverhalten.
Bedingungslose Erlaubnis zu essen: Intuitives Essen
Ich beschäftigte mich also mit dem Konzept des intuitiven Essens. Ich habe mich dafür mit „dem Standardwerk“ von Evelyn Tribole und Elyse Resch: „Intuitive Eating“ auseinandergesetzt.
Hier kannst du dir einen Podcast zum Konzept des Intuitiven Essens anhören: https://www.youtube.com/watch?v=oInnVrmR988
Ganz grob gesagt, geht es dabei darum, durch absolute Lebensmittelfreiheit – also der Erlaubnis alles zu jeder Zeit essen zu dürfen – zu einem natürlichen Hunger- und Sättigungsgefühl zurückzukehren. Zurückzukehren deshalb, weil wir als Säuglinge und Kinder diese natürlichen Abläufe intuitiv befriedigt haben. Erst durch gesellschaftliche Normen, Restriktionen von außen und ganz individuelle Erfahrungen kommt uns das natürliche Essverhalten abhanden. Die Theorie dahinter, wieder ganz grob gesagt: Wo es keine Verbote gibt, gibt es kein übermäßiges Verlangen nach bestimmten Lebensmitteln, da ist keine Restriktion nötig. In einigen Studien (das erfahrt ihr alles im Buch) wurde in den letzten Jahren belegt, dass Frauen, die sich intuitiv ernähren, eklatant weniger anfällig für Essstörungen sind und dass Frauen mit einem essgestörten Verhalten, durch das Erlernen des Intuitiven Essens psychisch genesen.
Ein Ernährungsplan für die Recovery?
In allen Therapien und Ernährungsberatungen, die ich selbst gemacht habe, habe ich eine Art Essensplan oder Essensprotokoll an die Hand bekommen. Ich selbst habe davon insoweit profitiert, dass ich gesehen habe, dass ich wirklich sehr wenig esse.
Ernährungspsychologische Aspekte
Für dich alleine ein Essprotokoll zu führen oder dir einen Essensplan zuzulegen würde ich als systemische Beraterin sehr kritisch hinterfragen. Klar ist jedoch, dass du gemeinsam mit einer Ernährungsberaterin, die sich mit essgestörtem Verhalten gut auskennt, über ein Protokoll gut herausfinden kannst, an welchen Stellen des Essens es dir besonders schwer fällt, bei dir zu bleiben. Hast du Schwierigkeiten mit dem Einkaufen, beim Essen selbst oder damit, zu spüren, wann du satt bist? Bei einer ernährungspsychologischen Begleitung wirst du immer auch deine Gedanken und Gefühle mittels eines Protokolls reflektieren. Allein auf bestimmte Mengen oder Lebensmittel zu achten ist sicher nur bedingt hilfreich. Eine erfahrene Ernährungstherapeut*in wird dich nicht wochenlang akribisch ein Mengenprotokoll führen lassen.
Egal ob zu wenig, zu viel oder restriktiv: Den Körper mit allem versorgen, was er braucht
Letztlich geht es darum, dich selbst auf körperlicher Ebene mit allem zu versorgen, was du brauchst. Und das völlig unabhängig von deinem Gewicht. Entgegen der landläufigen Meinung ist es auch mit einem höheren Gewicht wichtig, deinen Körper mit allem zu versorgen, was er braucht. Hat dein Körper Kraft und sinkt das Verlangen nach bestimmten Lebensmitteln, wird immer mehr Platz dafür, dich um die anderen Dinge in deinem Leben zu kümmern. Die Hindernisse anzugehen, die hinter deinem gestörten Essverhalten liegen. Dein Leben in Ordnung zu bringen und dich darin so einzurichten, dass es dir seelisch und körperlich gut geht.
Andere Perspektiven entwickeln – Recovery als integrierter Prozess
Aus meiner eigenen Erfahrung und auch aus dem, was mir meine Klientinnen rückmelden, ist es immens wichtig, das Essverhalten nicht isoliert zu betrachten, sondern zeitgleich erste Perspektiven für das „Leben danach“ zu entwickeln. Denn so viele wissen doch gar nicht, wofür es sich lohnt, den Körper besser zu versorgen, Gewicht zuzunehmen oder loszulassen, körperliche Veränderungen in Kauf zu nehmen. Denn oft wirkt es so, als warteten ja nur noch mehr Baustellen, Probleme, Dinge, die gelöst werden wollen. Also ist es ein ganz wichtiger Baustein in deiner Genesung auch jenen Dingen Aufmerksamkeit zu widmen, die du dann tun wirst, wenn es dir besser geht, mehr Energie und Kapazitäten hast und auch schon heute erste kleine Schritte dorthin zu machen.
Als ich das verstanden hatte, habe ich meine eigene Genesung als integrierten Prozess verstanden. Gute körperliche Versorgung führt zu mehr Kraft. Mehr Kraft führt zu heilsamer Auseinandersetzung mit den eigenen Problemen. Diese Auseinandersetzung führt dazu, dass wir in der Lage sind ernsthafte Zukunftsperspektiven zu entwickeln. Habe ich eine Perspektive, lohnt es sich, den Körper gut zu versorgen. Eine endlose positive Spirale des gesunden Lebens.
Was also tun, wenn sich die Gedanken nur ums Essen kreisen?
Das ist so simpel wie schwierig: 1. Essen. 2. Unterstützung finden, die im Moment zu dir passt. Das bedeutet: Denkst du an Essen, iss. Warte nicht darauf, bis du entweder gar nicht mehr essen kannst oder aber einen Essanfall bekommst. Hast du Lust auf ein Eis, geh los und esse ein Eis. Hast du richtig Hunger, iss dich satt.
Meine Erfahrung ist: Je stringenter du deinem Hunger, und auch deinen Gelüsten nachgibst, desto weniger werden die permanenten und lästigen Gedanken ums Essen. Wenn dein Körper und dein Geist dir irgendwann vertrauen, dass es am nächsten Morgen wieder etwas zu essen gibt, wird dein Kopf nicht ständig im Hungermodus sein und auf der Suche nach Nahrung alle Kapazitäten deines Gehirns in Anspruch nehmen.
Dieser Weg ist mit Nichten leicht. Doch er birgt das Potential, dich zur Essensfreiheit zu führen. Vorausgesetzt du beschäftigst dich auch mit den Problemen, die hinter deinem Essverhalten liegen.