Fach-Expertise und Klientinnen: Intuitiv Essen Erfahrungen

Wie Sie in 8 Schritten Intuitiv Essen lernen besser verstehen

Nora Stankewitz, Systemische Therapeutin (DGSF), Intuitive Eating PRO (Tribole/Resch)
Intuitiv Essen lernen Erfahrungen

Vielleicht belasten Sie Essensregeln, das ständige Kalorienzählen oder die endlosen Gedanken ums Essen mehr, als Sie Energie dafür aufbringen möchten. Vielleicht sehnen Sie sich nach mehr Leichtigkeit im Umgang mit Essen – aber der Gedanke, wirklich auf Ihren Körper zu hören, fühlt sich unsicher an. Vielleicht möchten sind Sie neugierig, welche Erfahrungen andere schon gemacht haben mit dem Intuitiven Essen.

Diese Unsicherheit ist vollkommen verständlich, ebenso wie der Wunsch sich nicht mehr an äußere Essensregeln zu halten. Schließlich wurden uns jahrzehntelang externe Regeln als einziger Weg zu „gesunder Ernährung“ verkauft. Doch es gibt einen anderen Weg: Intuitiv essen lernen bedeutet, sich wieder einzulassen auf die inneren Signale des eigenen Körpers (z.B. ein Ziehen im Magen), ihnen zu vertrauen (z.B. ich habe Hunger) und daraus Handlungen abzuleiten (z.B. ich esse jetzt meine mitgebrachte Stulle, weil die Mittagspause noch über eine Stunde hin ist).

Als systemische Therapeutin und Expertin für intuitive Ernährung möchte ich Ihnen zeigen, was intuitives Essen bedeuten und wie individuell intuitives Essverhalten aussehen kann – jenseits der Mythen und Missverständnisse, die darüber kursieren.

Was ist intuitives Essen überhaupt?

Intuitives Essen oder englisch nach den Begründerinnen Evelyn Tribole un Elyse Resch „Intuitive Eating“ ist kein neuer Trend oder eine versteckte Diät. Es ist die Art, wie wir alle als Kinder gegessen haben – bevor sich erlernte und abgeschaute Essensregeln und -verbote sprichwörtlich über dieses innere Gespür für unseren Körper gelegt haben.

10 Prinzipien der Intuitiven Ernährung

s Konzept der intuitiven Ernährung wurde von den Ernährungswissenschaftlerinnen Evelyn Tribole und Elyse Resch aus den USA entwickelt und basiert auf 10 Prinzipien. Die beiden sind es auch, die andere Therapeutinnen und Ernährungsberaterinnen professionell in Intuitiver Ernährung ausbilden.

Im Kern geht es darum:

  • natürliche Hunger- und Sättigungssignale wieder wahrnehmen lernen und auf sie zu vertrauen
  • alle Lebensmittel gleichberechtigt zu behandeln (keine „guten“ oder „bösen“ Nahrungsmittel)
  • emotionale und körperliche Bedürfnisse zu unterscheiden lernen
  • den eigenen Körper zu respektieren, unabhängig von seiner Form
  • internalisierte Fettfeindlichkeit zu verstehen und Diätmentalität hinterfragen und ablegen
  • die Freude und Genuss am Essen wiederentdecken
  • den Fokus auf das Körpergewicht hin zu mehr Wohlbefinden verschieben

Aus systemischer Sicht ist intuitives Essen für mich mehr als nur eine Ernährungsweise. Es ist ein Akt der Rebellion gegen eine Kultur, die Frauen jahrhundertelang beigebracht hat, dass ihr Wert von ihrer Körperform abhängt. In diesem Beitrag lesen Sie, wie Systemische Therapie bei belastetem Essverhalten wirkt.

Wichtig zu verstehen ist, dass es beim Intuitiven Essen nicht um ein Richtig oder Falsch geht. Intuitive Esserinnen haben zwar ähnliche Merkmale, wenn es um die Folgen dieser Ernährungshaltung geht – wie verbesserte körperliche wie seelische Gesundheit) und dieselben 10 Prinzipien als Anker. Doch im konkreten einzelnen Fall, können die Verhaltensweisen sich sehr unterscheiden, weil nun mal jeder Mensch einzigartig ist. Beispiele wie Erfahrungen mit intuitiver Ernährung aussehen können, zeige ich Ihnen weiter unten im Text (Anchor?)

Intuitives Essen ist keine Hunger-Sättigung-Diät

Intuitiv essen lernen kann bedeuten:

  1. Sich mehr auf sich selbst einzulassen
  2. Mehr Gelassenheit mit sich als Ganzes zu erfahren
  3. Nein zu sagen zu patriarchalen Vorstellungen, wie wir als Frauen zu sein haben
  4. Das Misstrauen in die eigene Wahrnehmung zu heilen
  5. Sich konkret mit Lebensmitteln auseinanderzusetzen
  6. Zu lernen, was einem wirklich schmeckt
  7. Erfahren, dass emotionale Krisen aktiv sind und diese zu befrieden
  8. Veränderungen in Freundschaften durch ein Nein zu Körpervergleichen und Diet-Talk

Die wissenschaftlich belegten Vorteile

Was bringt intuitives Essen wirklich?

Intuitives Essen bietet zahlreiche Vorteile, die weit über die Ernährung hinausgehen. Viele Menschen berichten, dass sie weniger Zeit und Energie mit Gedanken ans Essen verschwenden. Stattdessen gewinnen sie mehr Freiheit und Energie, um sich auf andere Lebensbereiche zu konzentrieren. Diese neu gewonnene Freiheit führt oft zu besseren Beziehungen, da weniger Kontrolle und mehr Präsenz im Alltag möglich sind. Zudem berichten viele von einer höheren Stressresistenz und einer gesteigerten Selbstakzeptanz, was zu einem erfüllteren Leben beiträgt.

Eine umfassende Meta-Analyse mit über 22.000 Teilnehmern zeigte eindeutig:

Körperliche Vorteile:

  • Stabilere Gewichtsentwicklung (weniger Jo-Jo-Effekt)
  • Bessere Blutzuckerwerte
  • Niedrigere Entzündungsmarker
  • Stabilerer Blutdruck

Psychische Vorteile:

  • Deutlich weniger Essstörungssymptome
  • Höheres Selbstwertgefühl
  • Weniger Angst und Depression
  • Besseres Körpergefühl

Was meine Klientinnen mit Intuitiver Ernährung erleben

„Ich dachte monatelang über jede Mahlzeit nach. Heute esse ich, wonach mir ist – und das ist meist viel ausgewogener als alle meine Diätpläne.“

„Das Erstaunlichste: Ich denke viel weniger ans Essen. Gleichzeitig kamen dann andere Themen auf den Tisch: ich sah, dass meine Ehe dringend in den Fokus gerückt werden musste.“

„Mein Gewicht hat sich stabilisiert. Nicht dort, wo ich es wollte, aber dort, wo sich mein Körper wohlfühlt. Ich merke, wie nicht nur ich mich entspanne, sondern auch meine kleine Tochter essenstechnisch zur Ruhe kommt.“

Mit Intuitiver Ernährung abnehmen?

Die ehrliche Antwort zur Gewichtsfrage

Intuitiv Essen abnehmen

In der Vorbereitung für diesen Blogbeitrag über Intuitives Essen habe ich gesehen, dass viele nach „Intuitiv essen abnehmen“ in das Suchfeld ihrer Suchmaschine eintippen. Dieser Wunsch ist verständlich – aber das ist ein Missverständnis des Konzepts. Das Original-Konzept der Intuitiven Ernährung, dessen Wirksamkeit durch wissenschaftliche Untersuchungen bestätigt ist, ist gewichtsneutral: Es geht nicht ums Abnehmen, sondern um Gesundheit und Wohlbefinden. Drastischer noch: es geht auch darum, Gewicht als Marker für irgendeinen körperlichen Zustand oder eine Bewertung zu verlernen, echte Gesundheitswerte in den Fokus zu nehmen und die eigene genetische Veranlagung für die eigene Körperform akzeptieren zu lernen. Evelyn und Elyse bemühen gerne das Bild einer Schuhgröße: Keine Frau mit Schuhgröße 39 würde sich eine Lebensaufgabe daraus machen, irgendwann in Schuhgröße 36 zu passen.

Was mit dem Körpergewicht mit einem intuitives Essverhalten passieren kann:

  • Manche Menschen nehmen ab (besonders nach Jahren des Überessens, häufig auch emotionalen Essens)
  • Manche nehmen zu (besonders nach chronischen Diäten, Formen von Magersucht)
  • Viele erleben kaum eine Gewichtsveränderung
  • Die allermeisten stabilisieren sich in ihrem natürlichen Gewichtsbereich (Set-Point-Theorie-Verlinkung)
  • Alle gewinnen an Lebensqualität
  • Die Dauer des Prozesses – körperlich wie seelisch – ist höchst individuell

8 Schritte zum intuitiven Essen

Schritt 1: Neugierig beobachten – ohne zu bewerten

Der sanfte Einstieg: Beginnen Sie damit, Ihren Körper wieder wahrzunehmen, ohne sofort zu handeln.

Praktische Übung:

  • Wie fühlt sich Hunger für Sie an?
  • Wann sind Sie angenehm satt?
  • Welche Lebensmittel tun Ihnen gut – physisch und emotional?

Wichtig: Es geht nicht um Perfektion, sondern um Neugier. Beobachten Sie wie eine wohlwollende, neugierige Wissenschaftlerin.

Schritt 2: Diätregeln hinterfragen

Reflexion: Welche Essensregeln befolgen Sie – und woher kommen sie?

Fragen Sie sich:

  • Wessen Stimme höre ich, wenn ich denke „Das darf ich nicht essen“?
  • Welche Regeln dienen mir wirklich – und welche schaden mir?

Was würde passieren, wenn ich eine Regel für einen Tag ignoriere?

Schritt 3: Frieden mit dem Essen schließen

Das bedeutet: Alle Lebensmittel sind gleichberechtigt. Es gibt keine „Sünden“ beim Essen.

Praktischer Tipp: Beginnen Sie mit einem Lebensmittel, das Sie sich normalerweise verbieten. Kaufen Sie es bewusst ein und erlauben Sie es sich bedingungslos.

Was passiert: Oft verlieren „verbotene“ Lebensmittel ihre übermäßige Anziehungskraft, wenn sie nicht mehr tabu sind.

Schritt 4: Hunger und Sättigung wiederfinden

Nach Jahren der Diäten sind diese Signale oft leise geworden. Aber verschwunden sind sie nie.

Hunger-Skala nutzen:

  • 1-3: sehr hungrig, kaum noch andere Dinge möglich
  • 4-6: Angenehm hungrig bis zufrieden
  • 7-8: Satt und zufrieden
  • 9-10: Übersättigt, unwohl

Schritt 5: Emotionales Essen verstehen

Aus systemischer Sicht: Emotionales Essen ist nicht das Problem – es ist ein Lösungsversuch für andere Themen.

Statt zu fragen: „Wie höre ich auf, emotional zu essen?“ Fragen Sie: „Was brauche ich wirklich, wenn ich zu Essen greife?“

Mögliche Bedürfnisse: Trost, Entspannung, Belohnung, Gesellschaft, Struktur.

Schritt 6: Den eigenen Körper respektieren lernen

Das vielleicht schwierigste Prinzip in unserer gewichtsfokussierten Gesellschaft: Ihren Körper so zu akzeptieren, wie er ist.

Kleine Schritte:

  • Neutrale Gedanken über Ihren Körper entwickeln
  • Dankbarkeit für das, was Ihr Körper leistet
  • Körperpflege aus Selbstfürsorge, nicht aus Verbesserungswunsch
  • Mode ausprobieren, um sich zu entdecken statt einem Bild zu entsprechen

Schritt 7: Freude an Bewegung entdecken

Nicht: Sport als Strafe für Essen oder um ein Gewichtsziel zu erreichen

Sondern: Bewegung, die sich gut anfühlt, die sie mit Energie erfüllt, die sie vermissen, wenn sie es nicht tun (viele entdecken hier neue Sportarten für sich wie Tanzen, Kraftsport, Laufgruppen, Bewegung mit Tielen)

Fragen Sie sich:

  • Welche Bewegung macht mir Freude?
  • Wie fühle ich mich nach verschiedenen Aktivitäten?

Was tut meinem Körper gut?

Schritt 8: Sanfte Ernährung praktizieren

Erst ganz am Ende kommen Überlegungen zu „gesunder Ernährung“ – aber ohne Dogma oder Zwang.

Das bedeutet: auf Ihren Körper hören und auch „praktische“ Überlegungen (Gesundheit, Verfügbarkeit, Vorlieben) einbeziehen.

Intuitiv-Essen-Erfahrungen aus meiner Praxis

Mehr als nur müde - Wie Frau R. lernte, nicht nur andere zu nähren

Frau R. kam mit 45 Jahren zu mir in die Beratung. Sie berichtete mir, dass sie schon immer irgendwie mit ihrem Körper zu kämpfen hatte, dass sie sich immer schon zu dick fand. Sie merkte, dass dieses Thema ihr so viel Energie raubte bei ihrem sehr vollen Alltag, dass sie es einfach nicht mehr aushielt. Sie hatte das Gefühl, wenn sie das jetzt nicht endlich in den Griff bekäme, würde sie unter dieser Last zusammenbrechen.

Frau R. ist Mutter eines Kindes und lebt in einer Partnerschaft. Sie hat einen Vollzeitberuf und organisiert den Familienalltag. Ihr Leben war geprägt von ständiger Fürsorge für andere – bei wenig Schlaf pro Nacht, häufigen nächtlichen Unterbrechungen durch ihr Kind und Arbeiten bis spätabends, sobald das Kind im Bett war.

Das Paradox des Dauerhungers

Sie beschrieb mir ihr Essverhalten so: Sie würde sehr viel zwischendurch essen und Essen suchen, darunter sei auch sehr viel Schokoladiges und überhaupt Süßes oder schnelle Snacks unterwegs. Als ich sie danach fragte, ob sie sonst volle Mahlzeiten isst, ob sie Frühstück, Mittag und Abendessen isst und sich satt isst, war sie erstaunt – denn sie musste das verneinen.

In weiteren Sitzungen stellte sich heraus, dass hinter dem ständigen Snacken ein grundlegender Mangel stand: Frau R. nährte ihren Körper nie richtig. Sie frühstückte nie, obwohl sie morgens großen Hunger hatte. Ihre Mahlzeitenstruktur war praktisch nicht existent, während sie gleichzeitig ständig nach Süßigkeiten suchte.

„Ich merkte, dass ich morgens eigentlich großen Hunger hatte“

Wir starteten damit, dass Frau R. nochmal genau in ihrem Alltag überprüfte, wann sie eigentlich was brauchte. Wir arbeiteten daran, innere Hunger- und Sättigungssignale wahrzunehmen und sich dann auch Stück für Stück daran anzunähern, auch tatsächlich zu essen, wenn sie hungrig war.

Bei den Übungen zu Hungersignalen stellte sie dann fest:

„Ich merkte, dass ich morgens eigentlich großen Hunger hatte, aber niemals gegessen hatte.“

So veränderte sich langsam ihre Mahlzeitenstruktur. Sie aß mehrere volle Mahlzeiten und – ganz wichtig – hatte die Erlaubnis, trotzdem Süßigkeiten zu essen, wenn ihr danach war. Es zeigte sich aber, dass ihr Konsum von schokoladenhaltigen Lebensmitteln und Süßigkeiten weniger wurde, ohne dass sie sich dazu gezwungen hatte, denn es war immer alles erlaubt. Sie hatte einfach einen geringeren Bedarf, dachte seltener an Süßigkeiten zwischendurch. Kürzlich stellte sie fest, dass sie noch Süßigkeiten zu Hause hatte, die sie überhaupt nicht „gebraucht“ hatte.

Emotionales Essen als Hilfeschrei

Frau R. nahm dann auch an meinem therapeutisch begleiteten Gruppenprogramm teil, in dem sie feststellen konnte, dass sie ein sehr emotionales Essverhalten hatte. Das heißt, wenn sie in für sich sehr schwierigen Situationen war – meistens Situationen, in denen sie wütend, traurig und hilflos war – griff sie zu Süßigkeiten und aß sie auch in Mengen, nach denen sie sich körperlich wirklich schlecht fühlte, ihr übel war, sie Bauchschmerzen hatte. Danach fühlte sie sich wieder schlecht gegenüber ihrem Körper und putzte sich mit negativen Selbstgesprächen runter.

Der systemische Blick auf das Selbstverständnis

Es folgte eine intensive Phase der systemischen Therapie, in der wir viel an ihrem Selbstverständnis arbeiteten und daran, wie sie eigentlich ihre Beziehung zu Hause gestalten möchte. Wir unternahmen auch Exkursionen in ihre Kindheit, wo wir sehen konnten, mit welchen Ideen über sich sie auch schon als Kind konfrontiert war. Diese konnten wir mit hypnosystemischen Methoden entspannen und negative Glaubenssätze über sich selbst auflösen.

„Ich möchte nicht mehr diejenige sein, die alle zusammenhält“

Eine wichtige Erkenntnis für Frau R. war: Sie möchte nicht mehr diejenige sein, die alle überall und in jedem Kontext zusammenhält. Sie möchte auch sich in Beziehungen mal entspannen, auch sie möchte mal diejenige sein, die sich in das Netz fallen lässt, die aufgefangen wird und nicht immer nur die sein muss, die trägt.

Leben heute – Verständnis statt Bestrafung

Nach etwa zwei Jahren gemeinsamer Arbeit ist Frau R. heute eine intuitive Esserin, auch wenn sie immer mal wieder Phasen von emotionalem Essen erlebt. Aber sie bestraft sich nicht mehr dafür und geißelt sich danach nicht mit neuen Diäten, sondern reagiert verständnisvoll. Wir besprechen das Thema und schauen, was es hier noch zu tun gibt oder ob es vielleicht auch in Ordnung ist, dass sie ab und zu emotional isst.

Ihr Körper hat sich so verändert, dass sie immer noch die gleichen Kleidungsstücke tragen kann, sich aber insgesamt wohler und zu Hause in ihrem Körper fühlt. Sie spürt, dass sie ihren Körper annehmen und akzeptieren kann.

Frau R. kommt heute ab und an noch zu mir und wir besprechen vor allem Themen aus ihrem inneren Erleben und wie sich das in ihren äußeren Umständen zeigt. Wir schauen, was davon für sie so bleiben kann und was davon noch verändert werden darf. Von der erschöpften Mutter, die sich mit Süßigkeiten durch den Tag kämpfte, zu einer Frau, die sich selbst nähren kann und verständnisvoll mit sich umgeht – das zeigt, wie intuitives Essen und systemische Arbeit ineinandergreifen.

Nicht-Essen als Bestrafung

Frau S. war 30 Jahre alt, als sie das erste Mal in meine Beratung kam. Wenige Wochen zuvor war sie aus einem klinischen Setting entlassen worden, nachdem sie dort und zuvor ambulant wegen einer atypischen Magersucht behandelt worden war. Ihre Geschichte mit dem Essen reichte bis in die frühe Kindheit zurück – sie beschrieb sich selbst als dickes Kind, das schon damals unter Mobbing in der Schule litt und sich nichts sehnlicher wünschte, als endlich dünner zu sein.

Es gelang ihr auch immer wieder, mit klassischen Diäten Gewicht abzunehmen, doch die Angst vor der Zunahme, doch noch wieder dick zu werden, begleitete sie konstant. Ein intuitives Essverhalten konnte sie nie entwickeln. Besonders belastend: Sie erinnerte sich überhaupt nicht mehr an ihre frühesten Jahre – weder wie ihr Essverhalten dort war, noch wann und weshalb sie eigentlich zugenommen hatte, denn dick war sie nicht schon immer gewesen.

Das tägliche Gedankenkarussell

Frau S. schilderte mir ihre Hauptprobleme sehr konkret: Sie machte sich permanent Gedanken ums Essen. Schon morgens beim Aufwachen kreisten ihre Gedanken darum, ob sie heute zunehmen würde, wenn sie bestimmte Lebensmittel essen würde, auf die sie Lust hatte. Sie wog sich täglich, manchmal sogar mehrere Male am Tag. Obwohl sie nicht im starken Untergewicht war, litt sie unter ausgeprägten Essstörungssymptomen.

Ihr Leben war gefangen in einem Teufelskreis aus Angst vor Zunahme, sich das Essen verbieten, in schwierige emotionale Situationen zu geraten und sich dann wieder essen zu verbieten. Dieser Konflikt blockierte nicht nur ihr Essverhalten, sondern ihr gesamtes Leben: Sie hatte einen Kinderwunsch, wollte in ihrer Beziehung offener sein können, wollte wieder Intimität zulassen. Doch das war ihr unmöglich, solange sie in diesem Essverhalten gefangen war und der dahinterliegende Konflikt nicht befriedet werden konnte.

„Niemand außer mir kann das Problem lösen“

Obwohl Frau S. aus den bisherigen therapeutischen Settings viel mitnehmen konnte, hatte sich ihr konkretes Essverhalten nie verändert. Ihre Ängste waren einfach zu groß – die Angst vor Kontrollverlust, die Angst vor dem Dickwerden, die Angst vor Gewichtszunahme waren zu übermächtig, um echte Schritte zu wagen.

Als ich sie fragte, wie es dazu kam, dass sie aus dem klinischen Setting nochmal in ein ambulantes Angebot wechselte – was ja sehr stark auf Eigenarbeit basiert und erfordert, dass sie als Klientin aktiv etwas tun würde – beschrieb sie mir ihren Schlüsselmoment:

Mit der Entlassung aus der Klinik wurde ihr klar, dass niemand außer ihr selbst etwas dafür tun können wird, dass sich etwas verändert.

Sie hatte Therapie bisher so verstanden, dass jemand etwas mit ihr macht, möglicherweise sogar außerhalb ihres Kontrollbereichs, und dass jemand in ihr etwas verändern könne, sodass sich ihr Verhalten wie automatisch verändern könnte. Zu verstehen, niemand außer ihr kann das Problem lösen, doch sie könnte sich vielleicht doch nochmal Unterstützung holen – das war für sie der Moment, wo sie es noch einmal anders probieren wollte.

Der Weg durch alle 10 Prinzipien Intuitiver Ernährung – und zwar systemisch

In unserer gemeinsamen Arbeit mit systemischer Therapie und intuitiver Ernährung arbeiteten wir an Frau S.s Wunsch, eine unabhängige Frau zu sein und kindliches Verhalten abzulegen. Parallel durchliefen wir systematisch alle Prinzipien der intuitiven Ernährung:

Wir begannen mit Prinzip 1 – Diätmentalität erst mal verstehen, wütend darüber werden und sie dann auch nach und nach hinterfragen und Stück für Stück ablegen. Von dort arbeiteten wir uns durch das Erlernen der inneren Hunger- und Sättigungssignale bis hin zum Thema emotionales Essen – oder auch emotionales Nicht-Essen anders zu bewältigen als eben mit dem Einsatz von Essen oder eben Nicht-Essen als Bestrafung.

Frau S. entdeckte neue Wege für den Umgang mit emotional sehr schwierigen Situationen. Sie verstand immer mehr, wer sie eigentlich ist, wer sie sein möchte, was sie ausmacht. Zentral war auch das Akzeptieren dessen, wer sie als Frau ist und wie sie in der Partnerschaft sein möchte, wie sie ihrem Elternhaus gegenüberstehen möchte.

Wir integrierten Bewegung wieder als Spaß und Freude (Prinzip 9) und kamen erst dann zu Prinzip 10: Wie ernähre ich mich? Was schmeckt mir? Was schmeckt mir eigentlich gar nicht? Was möchte ich und was ist auch wichtig, dass ich es integriere, um mich komplett ausgewogen ernähren zu können? Wann bin ich eigentlich satt und wo beginnt eigentlich mein Hunger schon?

Besonders herausfordernd war die Arbeit mit Gefühlen: Wie gehe ich mit den Gefühlen um, wenn ich merke, dass ich zugenommen habe, zum Beispiel an der Kleidung? Wie schaffe ich es zu akzeptieren, dass mein Körper eigentlich ein größerer Körper ist als der, den ich jetzt gerade habe?

Der lange Atem systemischer Arbeit

Dieser Prozess dauerte insgesamt drei Jahre. Ich möchte hier betonen, dass die Länge der Beratung wirklich lang war, der Fall aber auch besonders schwierig – Frau S. kam aus einer Magersucht. Diese Zeitspanne zeigt, wie tiefgreifend die Arbeit war und wie viele Lebensbereiche wir parallel bearbeiten mussten.

Leben heute – frei und selbstbestimmt

Heute checkt Frau S. nur noch ab und zu bei mir ein, um bestimmte Themen zu besprechen, die ihren Alltag gerade bestimmen. Sie nutzt eher die systemische Therapie, und gelegentlich sprechen wir über das Körperbild – denn es ist klar, dass wir immer noch in einer gewichtszentrierten, körperfokussierten Welt leben, in der sich auch meine Klientinnen zurechtfinden müssen und immer wieder justieren dürfen.

Frau S. sagt selbst, dass ihr Körper, ihr Aussehen und auch wie viel sie wiegt, nicht mehr ihren Wert als Frau bestimmt. Sie nimmt keine Körpermessungen vor, sie isst vorwiegend intuitiv. Es gibt keine verbotenen Lebensmittel mehr. Sie ist frei in der Essensgestaltung.

Besonders beeindruckend: Wenn sie besonders gestresst ist und merkt, dass sie weniger ihren Hunger spürt, kann sie trotzdem gut für sich sorgen. Ihr fällt das auf, sie bewältigt den Stress anders als über das Nicht-Essen und kümmert sich dann extra fürsorglich um sich – sie schaut extra, dass sie auch in stressigen Phasen eine ausgewogene Ernährung hat.

Von der jungen Frau, die sich täglich mehrmals wog und schon beim Aufwachen Angst vor dem Essen hatte, zu einer Frau, die ihren Körper respektiert und intuitiv für sich sorgen kann – das zeigt, welche Transformation mit systemischer Arbeit und intuitiver Ernährung möglich ist.

"Gutes" Essverhalten als Richtwert

Frau K

Häufige Fragen zu Intuitivem Essen

u

"Wie lange dauert es, bis ich intuitiv esse?"

Die ehrliche Antwort: Das ist sehr individuell. Manche spüren schon nach Wochen erste Veränderungen, andere brauchen mehrere Monate um Veränderungen zu spüren.

Wichtig: Es ist kein Ziel, das Sie erreichen, sondern ein lebenslanger Prozess des Sich-Kennenlernens.

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"Kann ich intuitiv essen und trotzdem abnehmen?"

Diese Frage verrät, dass Sie noch im Diätdenken verhaftet sind. Intuitives Essen bedeutet, das Abnehmen als primäres Ziel loszulassen. Gleichwohl sch das Körpergewicht natürlich verändern kann, wenn sich Ihre Einstellungen, Haltungen und Gewohnheiten ändern.

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"Was ist mit gesundheitlichen Einschränkungen?"

Menschen mit Diabetes, Bluthochdruck etc. können trotzdem intuitiv essen lernen – oft sogar mit besseren Gesundheitswerten. Die medizinischen Erfordernisse werden dann Teil der „sanften Ernährung“. Wichtig ist, auch eine vertrauensvolle medizinische Begleitung dafür zu finden.

Häufige Mythen über intuitives Essen

Mythos 1: „Dann esse ich nur noch Junk Food“

Die Realität: Nach einer anfänglichen Phase, in der der Körper nachholt, was ihm vorenthalten wurde, reguliert sich das Essverhalten meist von selbst.

Warum das passiert: Ihr Körper will sich gut fühlen. Und das gelingt langfristig nicht mit einseitiger Ernährung.

Mythos 2: „Das funktioniert nur bei dünnen Menschen“

Die Wahrheit: Forschung zeigt: Menschen aller Gewichtsklassen können von intuitiver Ernährung profitieren. (Bacon & Aphramor Health at Every Size)

Mythos 3: „Intuitiv essen ist eine Ausrede für Disziplinlosigkeit“

Systemische Antwort: Diese Aussage verrät mehr über unsere disziplinorientierte Kultur als über intuitives Essen. Auf den eigenen Körper zu hören erfordert oft mehr Mut als stures Regelfolgen.

Ein Wort zu "Intuitiv essen vorher-nachher" Warum ich keine Vorher-Nachher-Bilder zeige

Leider zeigen vor allem auf bildbasierten Plattformen wie Instagram Influencer, aber auch Coaches solche Vorher-Nachher-Bilder, die eine körperliche Veränderung beweisen sollen – meist von dick nach dünn. Solche Bilder perpetuieren die Botschaft, dass der Wert eines Ansatzes an der optischen Veränderung messbar ist. Das widerspricht dem Kern des intuitiven Essens und muss als unseriös bewertet werden.

Die wirklichen Vorher-Nachher-Unterschiede sehen Sie nicht auf Fotos:

  • Weniger Gedanken ans Essen
  • Mehr Energie für andere Lebensbereiche
  • Bessere Beziehungen (weniger Kontrolle, mehr Präsenz)
  • Höhere Stressresistenz
  • Mehr Selbstakzeptanz

💌 Begleitung auf Ihrem Weg

In meinem Newsletter teile ich regelmäßig systemische Perspektiven auf intuitives Essen. Ich schreibe über kleine Durchbrüche, ehrliche Rückschläge und alles, was ich über die Befreiung aus dem Diätsystem lerne.

Mein systemischer Ansatz beim Erlernen intuitiven Essens

In meiner Praxis schaue ich nicht nur auf das Essverhalten. Ich frage: Was erzählt mir Ihr Verhältnis zum Essen über Ihr gesamtes Lebenssystem?

Wir betrachten gemeinsam:

Welche Familienmuster Sie geprägt haben

Welche gesellschaftlichen Botschaften Sie verinnerlicht haben

Wie Ihr Essverhalten mit anderen Lebensbereichen zusammenhängt

Was Sie wirklich brauchen, um sich wohl zu fühlen

Was Sie von mir erwarten können

Kein Diätplan, keine Regeln, keine Verbote. Stattdessen:

Ein sicherer Raum für alle Ihre Gefühle und Ängste

Systemische Werkzeuge, um Ihre Muster zu verstehen

Begleitung beim Wiederfinden Ihrer Körpersignale

Unterstützung beim Aufbau eines neuen Selbstbildes

Einen ausführlicheren Beitrag zur Systemischen Therapie bei gestörtem Essveralten lesen Sie hier.

Mögliche Herausforderungen – und wie Sie damit umgehen

„Ich spüre meine Hunger- und Sättigungssignale nicht“

Das ist normal nach Jahren der Diäten, einer Essstörung oder generellem „Diät-Mindset“. Diese Signale sind wie ein Radio, das schlecht eingestellt ist – sie sind da, aber schwer zu hören.

Lösungsansatz: Beginnen Sie mit den offensichtlichsten Signalen. Extremer Hunger oder Völlegefühl sind leichter wahrnehmbar als subtile Nuancen.

„Mein Umfeld versteht es nicht“

Die Realität: Nicht alle werden Ihren Weg unterstützen. Besonders Menschen, die selbst in Diätmustern gefangen sind, reagieren oft ablehnend.

Strategien:

  • Grenzen setzen: „Über mein Essverhalten spreche ich nicht“
  • Verbündete finden: Menschen, die Sie unterstützen
  • Geduldig bleiben: Ihre Veränderung kann andere inspirieren

„Ich habe Angst vor Gewichtszunahme“

Systemisch betrachtet: Diese Angst ist berechtigt und menschlich. Sie zeigt, wie tief die Botschaften der Diätkultur sitzen.

Mein Vorschlag: Arbeiten Sie parallel an der Angst. Oft ist professionelle Unterstützung hilfreich, um diese tieferliegenden Ängste zu bearbeiten.

Wann Sie professionelle Unterstützung brauchen

Bei Essstörungen oder starken emotionalen Reaktionen

Intuitiv essen lernen kann bei Menschen mit Essstörungsgeschichte intensive Gefühle auslösen. Das ist normal, aber Sie müssen es nicht allein bewältigen.

Bei extremer Gewichtsangst

Wenn die Sorge um Ihr Gewicht so stark ist, dass sie Ihren Alltag bestimmt, ist therapeutische Begleitung sinnvoll.

Bei komplexen emotionalen Mustern

Aus meiner Praxis: Oft stecken hinter Essstörungen andere Themen – Trauma, Beziehungsprobleme, Selbstwertthemen. Diese lassen sich system-therapeutisch gut bearbeiten.

Ein Gespräch über Ihren individuellen Weg

Falls Sie beim Lesen gemerkt haben: „Das möchte ich auch, aber ich weiß nicht, wie ich anfangen soll“ – dann lade ich Sie zu einem ersten kostenfreien rund 15-minütigen Gespräch ein.

In unserem Erstgespräch schauen wir gemeinsam:

  • Wo Sie gerade in Ihrer Beziehung zum Essen stehen
  • Welche Ängste und Hoffnungen Sie haben
  • Welche ersten Schritte für Sie sinnvoll wären
  • Ob und wie ich Sie auf diesem Weg begleiten kann

Was Sie nicht erwartet: Dass ich Ihnen einen weiteren Essensplan gebe oder verspreche, Sie würden in X Wochen Y Kilo verlieren.

Was Sie erwartet: Ein ehrliches Gespräch darüber, wie ein Leben ohne ständige Gedanken ans Essen aussehen könnte.

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